„Entführte Kinder“ – ZDF-Unterhaltungs-Doku zukünftig ohne unsere Mandantin. BGH untersagt dem ZDF die Veröffentlichung von Fotos, Audio-Mitschnitt und Brief unserer Mandantin.
Sie wurde 1981 im Alter von 8 Jahren entführt und fünf Monate später, nach Zahlung eines Lösegeldes, wieder freigelassen. Die Entführer wurden nie gefasst. Das Lösegeld blieb verschwunden. Die Tat ist verjährt. 2018 dann die Crime-Doku des ZDF. Im Mittelpunkt des Beitrages stand ein Journalist, der seinerzeit als Vermittler agierte und den das ZDF nun vor die Kamera holte, um seine gescripteten Erinnerung an die Entführungen zu schildern. Hierbei zeigte das ZDF private Kinderfotos, mit denen öffentlich nach unserer Mandantin gefahndet wurde. Ferner wurde ein Brief gezeigt und vorgelesen, den unsere Mandantin während der Entführung hat schreiben müssen. Schließlich spielte das ZDF auch eine Audio-Datei ab, auf der zu hören war, wie unsere Mandantin Details zur Lösegeldübergabe vorlesen musste.
Das Oberlandesgericht Frankfurt (im Verfügungsverfahren) hat die Veröffentlichung der Fotos für zulässig erachtet, weil an der Veröffentlichung der Kinderbilder des Opfers ein allgemeines Interesse der Gesellschaft anzuerkennen sei. Es sei von öffentlichem Interesse getragen, zu erfahren, wie ein Journalist vor 36 Jahren zu seiner Vermittlerrolle gekommen und wie er „mit den enormen Herausforderungen seiner Rolle“ umgegangen sei. Die Veröffentlichung des Briefes und das Abspielen des Audio-Mitschnitts sei hingegen unzulässig, da insoweit Einblicke in die innere Gedanken- und Gefühlswelt gegeben werde. Die Wiedergabe des Audio-Mitschnitts stelle einen rechtswidrigen Eingriff in die Vertraulichkeitssphäre unserer Mandantin dar.
Das Oberlandesgericht Köln (Hauptsacheverfahren) hat die Klage insgesamt abgewiesen. Berichtsgegenstand sei die Beschreibung der Tätigkeit des Vermittlers. Die Bildnisse seien in diesem Zusammenhang Bildnisse des Zeitgeschehens. Die bildliche Darstellung im Rahmen der Doku stehe auch nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur überragenden Bedeutung des Opferschutzes, wonach dem Opfer eines Verbrechens wegen seiner verwundbaren Lage besonderer Schutz gebührt (vgl. EGMR, Urteil vom 17.01.2012 – 33497/07). Anderes als im dortigen Fall, werde das hiesige Opfer durch die streitgegenständliche Berichterstattung nicht erstmals aus der Anonymität geführt. Denn durch die seinerzeitige Berichterstattung sei bereits bekannt gemacht worden, um wen es sich bei dem Opfer gehandelt habe. Auch die Veröffentlichung des Briefes sei nicht zu beanstanden. Es fehle ein Geheimhaltungsinteresse. Der Brief sei bereits bei einer Pressekonferenz aus Anlass der Befreiung unserer Mandantin vor 36 Jahren verlesen worden. Die grundsätzlich zu schützende Vertraulichkeit der Tonaufnahme sei durch ihre vorangegangene, seinerzeitige Veröffentlichung ebenfalls aufgehoben worden. Auch offenbare die Tonbandaufnahme mit Informationen zur Geldübergabe kein Geheimnis über die Mandantin.
Den Vorinstanzen, die selbstverständlich das Recht (und die Pflicht) haben, gegenläufige Interessen zu gewichten, „abzuwägen“, war dies vorliegend gründlich misslungen und in diesem Fall zu attestieren, ohne Kompass für das rechte Maß agiert zu haben. Während über den Täter bereits wenige Monate nach seiner Verurteilung nicht mehr identifizierend berichtet werden darf, soll es nun also das Opfer eines schwerwiegenden Verbrechens tatsächlich hinzunehmen haben, in Unterhaltungsformaten noch nach knapp vierzig Jahren u.a. mit Fotos identifizierend als Opfer dargestellt zu werden? Und zwar nach Belieben der Medien, denen es nach diesen Entscheidungen freisteht, ein öffentliches Informationsinteresse – und sei es noch so abseitig – zu konstruieren?
Der BGH wurde von uns angerufen und die Entscheidung des OLG Köln aufgehoben. Glücklicherweise bzw. selbstverständlich. Er hat u.a. ausgeführt, dass die Fotos unserer Mandantin bereits keine Bildnisse der Zeitgeschichte sind. Sie muss es nicht hinnehmen, dass ihre Bildnisse Jahrzehnte nach der Entführung dazu verwendet werden, sie in sehr persönlicher Weise in ihrer Opferrolle darzustellen. Zwar attestiert der BGH dem ZDF, dass die behandelten Themen, wozu neben der Entführung auch die Rolle des seinerzeit als Vermittler agierenden Journalisten gehört, auch heute noch von Interesse seien und weiter, dass die Fotos unserer Mandantin im Filmbeitrag kontextgerecht verwendet wurden.
Ein öffentliches Interesse gerade an der Person unserer Mandantin sei gleichwohl nicht anzuerkennen. „Seit der Entführung der Klägerin sind bis zur Veröffentlichung des Films 35 Jahre und bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht 40 Jahre vergangen. Weder aus dem Kontext des Filmbeitrags der Beklagten noch aus sonstigen Feststellungen ergibt sich eine gleichwohl fortdauernde Bedeutung gerade der Person und vor allem der Persönlichkeit der Klägerin“.
Der Rechtsprechung des EGMR zum überragenden Opferschutz hat der BGH mehr Beachtung geschenkt und zutreffend darauf hingewiesen, dass Opferschutz nicht nur die Verhinderung einer erstmaligen Identifikation eines bis dahin in der Öffentlichkeit unbekannten Opfers bedeute (vgl. dazu EGMR, NJW 2013, 771 Rn. 53). Zielrichtung des Rechts am eigenen Bild sei es, Betroffene davor zu schützen, dass Abbildungen von Ihnen gegen ihren Willen für andere verfügbar gemacht werden. Und zwar auch dann, wenn bereits zuvor eine redaktionelle Konfrontation des Opfers mit der Tat stattgefunden hat und die Anonymität des Opfers nicht mehr besteht.
„… unabhängig davon kann das Opfer einer Straftat nach einem gewissen Zeitablauf Anspruch darauf haben, selbst zu entscheiden, ob sein Bildnis noch zur Illustration und erneuten Vergegenwärtigung seiner damaligen Opferrolle verwendet werden darf.“
Angesichts des erheblichen Zeitablaufs und des nachlassenden öffentlichen Interesses an ihrer Person und ihrer Persönlichkeit hat die Klägerin nunmehr einen Anspruch darauf, die Verfügungsgewalt über ihre Kinderfotos zurückzuerlangen und die in die Öffentlichkeit getragene Verknüpfung zwischen der schweren Straftat, deren Opfer sie als Kind geworden ist, und den Abbildungen ihrer Person aufzulösen.
Die Wiedergabe des von der Mandantin während der Entführung geschriebenen Briefes und des Tonbandmitschnittes stellt eine rechtswidrige Verletzung der Privatsphäre unserer Mandantin dar, wozu solche Angelegenheiten gehören, die wegen ihres Informationsgehalts typischerweise als “privat“ eingestuft werden, wozu „auch Situationen großer emotionaler Belastung wie das Bangen um das Leben eines nahen Angehörigen gehören (vgl. Senat, Urteil vom 17. Mai 2022 – VI ZR 123/21, MDR 2022, 1023 Rn. 15), erst recht das Bangen um die eigene Person. In einer solchen Situation sind Brief und Audio-Mitschnitt entstanden.“ Der Eingriff ist nach Abwägung rechtswidrig. Anders noch als das OLG Köln, war es für den BGH in diesem Zusammenhang vollkommen belanglos, welcher konkrete Inhalt im Audiomitschnitt kommuniziert wurde.
OLG Frankfurt, Urteil vom 13.02.2020 – 16 U 93/19
OLG Köln, Urteil vom 17.03.2022 – 15 U 173/21
BGH, Urteil vom 06.06.2023 – VI ZR 309/22